Journalistinnen und Journalisten sowie Persönlichkeiten, die für Behörden Mitteilungen über Straftaten berichten, haben die Entscheidung zu treffen, ob der migrantische Hintergrund von Verdächtigen und Schuldigen öffentlich gemacht werden soll. Die Arbeitsgruppe „Kriminalitätsberichterstattung“ um Prof. Dr. Christoph Klimmt (hmtm Hannover) und Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius (LMU München) hat als Entscheidungshilfe ein Empfehlungspapier als Handreichung erarbeitet.
Es gibt zwei grundsätzliche Standpunkte, die einander gegenüberstehen. Eine Position fordert die regelmäßige Veröffentlichung von Informationen über bestimmte Gruppen, um Transparenz zu gewährleisten und den Bürgern uneingeschränkte Informationsmöglichkeiten zu bieten. Die andere Seite betont hingegen, dass in der Regel kein direkter Zusammenhang zwischen der Herkunft einer Person und einer Straftat besteht. Dieser Zusammenhang würde jedoch durch die Veröffentlichung des migrantischen Hintergrunds ungerechtfertigterweise suggeriert. Zudem warnt sie vor negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft, weil sich so Vorurteile und feindliche Einstellungen gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund bilden können.
Empfehlungen – keine Anweisungen, keine Vorgaben
Die Autorengruppe unterstreicht, weder soll die Handlungsfreiheit von Journalistinnen und Journalisten sowie Verantwortlichen der Behörden mit ihren Empfehlungen infrage gestellt, noch sollen Vorgaben verkündet werden. Lesen Sie die einzelnen Punkte durch und überprüfen Sie, was für Ihren Einzelfall zutrifft. Verinnerlichen Sie sich: Jedes Ereignis stellt einen Einzelfall dar. Gehen Sie nicht „wie immer“ vor.
Falls Sie regelmäßig Entscheidungen dieser Art treffen müssen, so speichern Sie diese Webseite als Lesezeichen in Ihrem Browser oder drucken Sie die einzelnen Empfehlungsblöcke aus und platzieren Sie diese von Ihrem Arbeitsplatz gut lesbar an einer Pinnwand, Tafel o. ä.
Beachten Sie auch die Reflexionshilfe für Ereignisse, bei denen Personen ohne Migrationshintergrund aufgeführt werden sollen.
Einwanderungsbiografie Reflexionshilfe
Bei den folgenden Reflexionshilfen handelt es sich überwiegend um wörtliche Zitate (kursiv). Dies verhindert eine unabsichtliche falsche Wiedergabe des beabsichtigten Sinns.
Quellenmaterial:
Falls in dem Material, das Ihnen für Ihre Nachricht als Grundlage dient (z. B. Bericht einer Behörde; Pressemitteilung; Videoblog), die Herkunft oder Gruppenzugehörigkeit von mindestens einer fallbeteiligten Person genannt ist – wie bewerten Sie die Akkuratheit dieser Information? Handelt es sich um gesicherte Erkenntnisse oder vielleicht nur um die Mutmaßung eines Augenzeugen? Wie bewerten Sie die Angemessenheit der Erwähnung von Herkunftsinformationen in Ihrem Quellenmaterial?
Sachbezug:
Wenn Sie die Herkunft von Verdächtigen (oder überführten Täter:innen) in Ihrer eigenen Nachricht nennen wollen, haben Sie dafür einen triftigen Grund, der eindeutig im Tatereignis wurzelt? Inwiefern können Sie (gegenüber Kolleg:innen oder Vorgesetzten) zeigen, dass diese Information von Bedeutung für die Erklärung und die Verständlichkeit des Falls ist?
Informationsnutzen:
Welches „öffentliche Interesse“ würden Sie Ihrer Auffassung nach mit einer möglichen Herkunftsnennung bedienen? Bei Fahndungsaufrufen: Inwiefern kann die Art Ihres gruppenbezogenen Hinweises in plausibler Weise Ihrem Publikum helfen, die gesuchte Einzelperson zu erkennen, ohne pauschal und fälschlicherweise eine große Gruppe von Menschen zu Verdächtigen zu erklären?
Individualisierung und Kontextualisierung:
Wird das Publikum nur die Herkunft erfahren, oder nennen Sie auch weitere Informationen, die die Person als einzelnen Menschen (und nicht nur als Angehörige:n einer sozialen Gruppe oder ethnischen Minderheit) erscheinen lassen? Bei Fahndungsaufrufen: Inwiefern schätzen Sie Ihre Darstellung als ausreichend präzise ein, um die gesuchte Einzelperson erkennbar werden zu lassen und sie nicht lediglich als Angehörige:n einer größeren sozialen oder ethnischen Gruppe auszuweisen?
Form und Formulierung:
Wenn Sie die Herkunftsinformation in Ihre Nachricht aufnehmen – inwiefern erscheint Ihnen Ihre Umsetzung in Wort und Bild respektvoll und achtsam gegenüber möglicher Diskriminierung von Menschen mit Einwanderungsbiografie? Inwiefern sind Sie der professionellen Auffassung, dass Ihre Formulierungen oder Bilder dem Publikum nicht den Schluss nahelegen, Menschen einer bestimmten Herkunft seien pauschal kriminell oder stellten eine Bedrohung dar? Wie gründlich haben Sie Ihre Wortwahl auf Begriffe geprüft, die Stereotype ansprechen oder andeuten können oder die von der in Rede stehenden Community als herabsetzend eingestuft werden? Hier sind gerade auch jene Botschaftselemente bedeutsam, mit denen sich das Publikum einen ersten und schnellen Eindruck verschafft, nämlich Überschriften, Teaser und Bildmaterial.
Dialogstrategie:
Falls Sie nach der Veröffentlichung Kommentare oder Fragen aus Ihrem Publikum zur (getätigten oder vermiedenen) Herkunftsnennung erreichen – wie möchten Sie darauf reagieren? Auf welche Leitlinien Ihres Medienhauses oder Ihrer Behörde werden Sie sich beziehen, und wie werden Sie Ihre Entscheidung begründen?
Indirekte Folgen:
Ihre Entscheidung, eine Herkunftsinformation zu veröffentlichen oder unerwähnt zu lassen, könnte indirekte Folgen für bestimmte Angehörige Ihres Publikums oder andere Bürgerinnen nach sich ziehen. Manche Menschen könnten aufgrund Ihrer Entscheidung ein Misstrauen Ihrer Publikation gegenüber entwickeln, weil sie mit Ihrer Entscheidung nicht einverstanden sind (etwa, wenn Sie auf eine Herkunftsnennung verzichten und sie sich dadurch bevormundet fühlen). Manche werden als „Betroffene“ eine Diskriminierung erleben, wenn Sie eine Herkunftsinformation (in bestimmter Weise) veröffentlichen, und das Vertrauen in die publizistische Qualität Ihres Mediums oder Ihrer Behörde verlieren. Inwiefern können Sie solche Folgen absehen und einschätzen? Inwiefern wissen Sie sich hier im Einvernehmen mit Ihren Vorgesetzten oder Kolleginnen zum Umgang mit solchen (nicht beobachtbaren) möglichen Folgen Ihrer Entscheidung?
Reflexionshilfe – ohne Einwanderungsbiografie
Zur Vermeidung indirekter Diskriminierungswirkungen unterlassen Sie Hinweise, die Einwanderungsbiografie ausschließen sollen, auch wenn es „gut gemeint“ ist.
Expliziter Hinweis auf die „inländische“ Herkunft von Täter:innen ist ungewöhnlich.
Quelle:
Klimmt, Christoph; Dittrich, Anja; Brosius, Hans-Bernd; Schmid-Petri, Hannah; Schultz, Tanjev; Vowe, Gerhard (2023): Herkunftsnennung von Täter*innen und Verdächtigen in der Verbrechensberichterstattung. In: Publizistik 68 (1), S. 69–88. DOI: 10.1007/s11616-022-00765-5.