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Gemeinsam uneinig

Wie sich die politische Kultur in Ost- und Westdeutschland entwickelt hat

Autor: bb
24. Februar 2024

„Im Osten ticken die Leute einfach anders!“ Das hört man immer wieder, wenn es um die politische Kultur in Deutschland geht. Aber stimmt das wirklich? Susanne und Gert Pickel haben untersucht, wie sich die Einstellungen zur Demokratie in Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall unterscheiden.

Problemstellung

Seit dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung Deutschlands wird immer wieder über die Unterschiede in der politischen Kultur zwischen Ost und West diskutiert. Einige Beobachter vermuten, dass es immer noch eine „Mauer in den Köpfen“ gibt, die Ost- und Westdeutsche trennt. Die Frage ist, ob diese Unterschiede wirklich so tiefgreifend sind und welche Auswirkungen sie auf die deutsche Demokratie haben.

Relevanz

Die Frage nach der politischen Kultur in Ost- und Westdeutschland ist nicht nur historisch, sondern auch gesellschaftlich und politisch von großer Bedeutung. Sie beeinflusst das Vertrauen der Bürger in die Demokratie und die Stabilität des politischen Systems. Wenn große Unterschiede bestehen bleiben, könnte dies langfristig zu Spannungen und Instabilität führen.

Annahmen

Die Autoren gehen davon aus, dass es Unterschiede in der politischen Kultur gibt, die durch verschiedene Faktoren wie historische Erfahrungen, wirtschaftliche Bedingungen und soziale Anerkennung beeinflusst werden. Sie vermuten, dass Ostdeutsche sich oft benachteiligt und weniger anerkannt fühlen als Westdeutsche.

Methodik

Die Studie von Susanne und Gert Pickel basiert auf einer Vielzahl von Umfragen und statistischen Analysen, die über mehrere Jahrzehnte hinweg durchgeführt wurden. Sie betrachten Einstellungen zur Demokratie, Vertrauen in politische Institutionen und die Zufriedenheit mit der Demokratie in Ost- und Westdeutschland. Dabei nutzen sie Daten aus dem Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (Allbus) und dem European Social Survey (ESS).

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass es tatsächlich Unterschiede gibt. Ostdeutsche sind im Durchschnitt weniger zufrieden mit der Demokratie als Westdeutsche. Sie haben auch weniger Vertrauen in politische Institutionen wie den Bundestag oder die Parteien. Interessanterweise ist die Zustimmung zur Demokratie als beste Regierungsform in beiden Landesteilen hoch, aber die Zufriedenheit mit der konkreten Ausgestaltung der Demokratie ist im Osten deutlich niedriger.

Ein Grund dafür ist das Gefühl der Benachteiligung, das viele Ostdeutsche empfinden. Sie fühlen sich oft als Bürger zweiter Klasse und glauben, dass ihre Lebensleistungen nach der Wende nicht ausreichend anerkannt wurden. Diese Gefühle der Ungleichwertigkeit führen dazu, dass sie den westdeutschen politischen Eliten misstrauen und sich eher von populistischen Parteien wie der AfD angezogen fühlen.

Erklärungen: Situation, Sozialisation, Identität oder Anerkennungsdefizite?

Die Autoren diskutieren verschiedene Erklärungsansätze für diese Unterschiede. Die Situationshypothese betont die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen Ost und West, die relative Deprivation spricht von einem Gefühl der Benachteiligung im Vergleich zu Westdeutschen. Die Identitätshypothese sieht die Entstehung einer eigenen ostdeutschen Identität, die sich aus negativen Transformationserfahrungen speist. Schließlich gibt es die Sozialisationshypothese, die besagt, dass die in der DDR gewonnenen Wertorientierungen bis heute nachwirken.

Die Analyse zeigt, dass die wirtschaftliche Lage einen starken Einfluss auf die Demokratiezufriedenheit hat. Ostdeutsche, die ihre wirtschaftliche Situation als schlecht empfinden, sind weniger zufrieden mit der Demokratie. Auch das Gefühl, nicht den gerechten Anteil am Lebensstandard zu erhalten, spielt eine wichtige Rolle. Hingegen hat die Zustimmung zur Idee des Sozialismus keinen signifikanten Einfluss auf die Zufriedenheit mit der Demokratie.

Fazit: Keine Mauer in den Köpfen, aber Gefühl der Ungleichwertigkeit

Susanne und Gert Pickel kommen zu dem Schluss, dass es keine „Mauer in den Köpfen“ gibt, die Ost- und Westdeutsche grundsätzlich trennt. Die Demokratie genießt in beiden Teilen Deutschlands hohe Zustimmung. Allerdings gibt es immer noch Unterschiede in der Zufriedenheit mit der Demokratie und im Vertrauen in politische Institutionen. Diese Unterschiede sind vor allem auf Gefühle der Benachteiligung und mangelnder Anerkennung im Osten zurückzuführen.

Die Autoren fordern, dass die Politik diese Gefühle ernst nehmen und Maßnahmen ergreifen muss, um die Lebensleistung der Ostdeutschen anzuerkennen und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Nur so kann langfristig eine einheitliche politische Kultur in Deutschland entstehen.

Quellen: Pickel, S., & Pickel, G. (2020). Ost- und Westdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall – eine gemeinsame demokratische politische Kultur oder immer noch eine Mauer in den Köpfen? Zeitschrift für Politikwissenschaft, 30, 483–491. https://doi.org/10.1007/s41358-020-00230-7

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